Ludwig Erhard und Maßnahmen zur Versorgungssicherheit

von Rainer Baake, Staatssekretär a.D., Direktor der Stiftung Klimaneutralität

Rainer Baake, Staatssekretär a.D., Direktor der Stiftung Klimaneutralität

Am 9. Mai hielt die neue Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche auf dem Ludwig-Erhard-Gipfel ihre erste programmatische Rede. Sie berief sich auf Ludwig Erhard und sah „das Bundeswirtschaftsministerium in der Verantwortung, die bewährten Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft wiederzuentdecken, sie auszuprägen, das ordnungspolitische Gewissen der Bundesregierung zu sein.“ Kurz darauf erklärte sie jedoch die staatliche Ausschreibung von mindestens 20 GW Gaskraftwerken zur obersten politischen Priorität, da sonst die Versorgungssicherheit gefährdet sei. Den offensichtlichen Widerspruch zu den zuvor hochgehaltenen Prinzipien der Marktwirtschaft ließ sie dabei unerklärt.

Nach dem Energiewirtschaftsgesetz ist es die Verantwortung der Stromhändler, genau die Strommenge zeitgleich ins Netz einzuspeisen, die sie an Kunden verkaufen. Es wäre interessant zu erfahren, warum die Bundeswirtschaftsministerin der Auffassung ist, dass eine zahlungsbereite Nachfrage zukünftig nicht auf ein entsprechendes Angebot treffen wird. Hatte Ludwig Erhard nicht gelehrt, dass der Staat den ordnungspolitischen Rahmen setzen, sich aber aus dem Marktgeschehen heraushalten soll?

Unsere neue Bundeswirtschaftsministerin beruft sich auf Ludwig Erhard und weiß angeblich besser als der Strommarkt, dass dieser ein Defizit von 20 GW Leistung aufweist. Im Widerspruch zum Prinzip der Technologieoffenheit soll dieses Defizit ausschließlich mit Gaskraftwerken gedeckt werden. Da sie befürchtet, dass diese Anlagen nicht am Markt gebaut werden, will die Ministerin sie ausschreiben. Im Klartext: Die Betreiber der 20 GW Gaskraftwerke sollen durch Subventionen dazu bewegt werden, die Kraftwerke zu errichten. Das EU-Recht spricht hier von einer Beihilfe.

Staatliche Beihilfen sind nach EU-Recht grundsätzlich verboten, da sie einen Eingriff in den Markt darstellen und den Wettbewerb verzerren können. „Grundsätzlich“ meint, dass es Ausnahmen geben kann. Unter welchen Voraussetzungen Ausnahmen vom generellen Verbot zugelassen werden können, hat die EU-Kommission in sogenannten Beihilfeleitlinien festgelegt.

Will die Ministerin die Zustimmung der EU-Kommission zu ihren geplanten Subventionen für Gaskraftwerke erhalten, wird sie daher nachprüfbar begründen müssen, warum die Grundsätze von Ludwig Erhard im konkreten Fall des Strommarkts nicht gelten sollen, da ein Marktversagen vorliegt.

Für die Bestimmung der Größe der Lücke gibt es klare Vorgaben. Ob dabei 20 GW als Ergebnis herauskommen, ist völlig offen.

Um eine durch Marktversagen verursachte Lücke zu schließen, gibt es grundsätzlich zwei unterschiedlichen Kapazitätsmechanismen: einer strategischen Reserve oder ein marktweiter Einkaufsmechanismus. Der Unterschied liegt darin, dass eine strategische Reserve nicht am Strommarkt teilnimmt. Sie wird ausschließlich dann aktiviert, wenn am Strommarkt Angebot und Nachfrage trotz hoher Preise nicht zusammenkommen. Ein solche strategische Reserve hat Deutschland mit einer Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes im Jahr 2016 eingeführt. Zum Einsatz kam sie bislang nicht, weil der Strommarkt zu jeder Zeit die Nachfrage abgedeckt hat.

Die Ministerin will einen Schritt weiter gehen und mit der Ausschreibung von Kapazitäten einen zentralen Einkaufsmechanismus einführen. Dabei wird sie beachten müssen, dass dieser Mechanismus allen Technologien offenstehen muss, die transparente, objektive und nichtdiskriminierende technische und ökologische Anforderungen erfüllen. Eine Kapazitätslücke kann grundsätzlich geschlossen werden durch Stromerzeugungsanlagen, Speicher und Nachfragemanagement.

Darüber hinaus muss der zentrale Einkaufsmechanismus eine grenzüberschreitende Beteiligung zulassen. Im europäischen Binnenmarkt ist es nicht zulässig, Kapazitäten in unseren Nachbarländern zu diskriminieren. Den deutschen Stromkunden oder Steuerzahlern sollte reiner Wein eingeschenkt werden. Je nach Ausschreibungsergebnis, können die von deutscher Seite finanzierten Kapazitäten auch in unseren angrenzenden Nachbarländern stehen. Und im Fall von Engpässen darf kein deutscher Politiker in den Export von Strom aus Deutschland in die Nachbarländer eingreifen, wenn dort höhere Preise gezahlt werden. Das sehr viel größere Deutschland bezahlt mit einem zentralen Einkaufsmechanismus auch Versorgungssicherheit in unseren kleineren Nachbarländern mit.

Es gibt zwischen dem Ansatz von Katherina Reiche einen gewichtigen Unterschied zum Vorgehen ihres Vorgängers. Robert Habeck hatte die im Entwurf des Kraftwerkssicherheitsgesetzes vorgesehenen Kraftwerke, die nach einer Übergangszeit mit grünem Wasserstoff betrieben werden sollten, bei der EU-Kommission zum größten Teil als „Klimaschutzmaßnahme“ notifiziert. In diesem Fall gelten andere rechtliche Anforderungen als bei zentralen Einkaufsmechanismen.

Die neue Bundesregierung will einen anderen Weg gehen. Sie wird sich am Erfolg messen lassen müssen. Was sich keinesfalls wiederholen darf, ist eine weitere Legislaturperiode, in der Abstimmungen mit der EU-Kommission und innerdeutsche Konflikte ohne klare Entscheidungen bleiben. Wie immer diese Entscheidung ausgeht, sie muss geeignet sein, Investitionen in Kapazitäten auch tatsächlich auszulösen. Die Notwendigkeit von steuerbaren Backup-Kapazitäten für Zeiten, bei denen Wind und Sonne im In- und Ausland nicht im erforderlichen Umfang zur Verfügung stehen, ist zwischen allen Experten unstreitig. Die Aussicht auf staatliche Ausschreibungen in Kombination mit staatlichen Eingriffen in die Strompreise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat zu Investitionszurückhaltung bei steuerbaren Kapazitäten geführt. Ich wünsche der neuen Bundeswirtschaftsministerin, dass es ihr rasch gelingt, diese Investitionszurückhaltung zu überwinden, ohne dabei die Klimaziele zu gefährden.